Was ist Neuroplastizität?

Die Neuroplastizität ist ein Prozess, der funktionelle und strukturelle Anpassungen des Gehirns beinhaltet. Hierdurch erlangt das Gehirn die  Fähigkeit die Aktivität des Nervensystems zu verändern. Dies geschieht in Abhängigkeit zu internen oder externen Reizen und einer veränderten Umgebung, indem es seine Struktur, Funktionen oder Verknüpfungen umorganisiert. Durch diesen  Prozess passt sich unser Gehirn also an die gestellten Anforderungen an.

Die Anpassungsreaktion wird durch Reize ausgelöst, die regelmäßig und/oder intensiv auftreten müssen. Diese Reize lassen sich allgemein in negative und positive Reize aufteilen: Einen negativen kann zum Beispiel ein Schlaganfall, ein emotional-traumatisches Ereignis oder auch eine  Gehirnverletzung darstellen. Positive Reizen können hingegen durch gezieltes Training gesetzt werden.

Weshalb Neuroplastizität wichtig ist

Neuroplastizität ist die Basis für jeden Leistungszuwachs durch Training nach Krankheit und Verletzung: sensorisch, motorisch und kognitiv.Zum Beispiel kann eine bestimmte Veränderung einer Nervenzelle (Myelinisierung) zu einer 10x schnelleren Signalübertragung führen, als vor diesem Prozess. Menschen mit mehr und stärker myelinisierten Nervenbahnen können also Informationen deutlich schneller verarbeiten und mit Handlungen darauf reagieren, als andere. Dies ermöglicht uns einen besseren Umgang mit komplexen Alltagssituationen und dabei ebenso geringere negative Auswirkungen, wie z.B. Schwindel oder Kopfschmerzen in einer großen Menschenmenge. 

Zusätzlich zur verbesserten Wahrnehmung und verarbeiten von den zuvorgenannten Alltagssituationen, ermöglicht uns die Neuroplastizität auch die Verbesserung von Gehirn-internen Prozessen. Somit ist eine bessere neuronale Verbindung zwischen den einzelnen Gehirnarealen mit höherer kognitiver und motorischer Leistung assoziiert. So ist es z.B. bei Menschen mit Parkinson, oder nach einem Schlaganfall möglich Bewegungskontrolle, kognitive Leistung und andere alltagsrelevante Dinge durch Training der Gehirnfunktionen zu verbessern.

Formen der Neuroplastizität

Strukturell: Veränderungen auf struktureller Ebene sind zum einen Anpassungen der grauen und weißen Substanz (Myelinisierung), somit ein kontinuierlicher Anstieg des Volumens in diesem Bereich. Zum anderen auch synaptische Anpassungen, u.a. ein initialer Anstieg der Dendriten, Axone und Gliazellen mit angepasster neuronaler Verknüpfung & Stabilisierung der übrig gebliebenen Verbindungen zur effizienten Verschaltung. Unser Gehirn kann also tatsächlich wachsen und sich bis ins hohe Alter stetig verändern. Auf dieser Ebene werden also die Grundlagen gelegt, dass sich in der späteren Funktion etwas verändern kann. 

Funktionell: In diesem Bereich werden Veränderungen der neuronalen Netze erwirkt, welche für die Signalübertragung und Kommunikation der einzelnen Bereiche untereinander zuständig sind. Hier werden zum einen elektrische Potenziale über Axone/Synapsen zur Kommunikation übertragen (Leitungsübertragung), zum anderen auch Neurotransmitter und -modulatoren zur chemischen Anpassung von Prozessen (Volumenübertragung). Erstere können wir z.B. über kognitives Training verbessern, letztere werden z.B. von unseren Emotionen und der Stimmung beeinflusst. So kann auch erklärt werden, dass beispielsweise Rückenschmerzen schlimmer werden, wenn man generell gestresst und unglücklich ist. Denn auch für Schmerzen sind chemische Prozesse im Gehirn verantwortlich

Der besondere Nutzen in der Verbesserung von Gang und motorischer Kontrolle

Die neuroplastischen Anpassungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung von Gang und motorischer Kontrolle. Durch gezielte therapeutische Interventionen, wie z.B. motorisches Training, sensorische Stimulation und bestimmte Arten des Krafttrainings, können neuronale Netzwerke reorganisiert und gestärkt werden. Dies führt zu einer verbesserten Konnektivität zwischen motorischen, sensorischen und kognitiven Bereichen des Gehirns. Besonders bei Patienten mit neurologischen Erkrankungen, wie z.B. Schlaganfall, Parkinson oder peripherer Neuropathie, können solche Interventionen die Wiederherstellung von motorischen Fähigkeiten fördern und die Gangstabilität sowie das Gleichgewicht verbessern. Studien zeigen, dass regelmäßiges, intensives Training nicht nur die Muskelkraft und -koordination erhöht, sondern auch die neuronalen Verbindungen verstärkt, was zu einer effizienteren motorischen Steuerung und einer Reduktion des Sturzrisikos führt. Diese Anpassungen sind nicht nur kurzfristig, sondern können langfristige Verbesserungen in der Lebensqualität und Selbstständigkeit der Betroffenen bewirken.

Veränderungen in Schmerzintensität und Schmerzverarbeitung durch neuroplastische Prozesse

Neuroplastizität spielt eine zentrale Rolle bei der Modulation von Schmerzintensität und -verarbeitung. Durch verschiedene periphere und systemische Reize, wie beispielsweise visuo- oder sensomotorisches sowie auch Biofeedback Training und medikamentöse Interventionen, kann die kortikale Schmerzverarbeitung beeinflusst werden. Neuroplastische Prozesse ermöglichen die Anpassung und Reorganisation neuronaler Netzwerke im Gehirn, die für die Schmerzempfindung und -wahrnehmung verantwortlich sind. Die aktuelle Studienlage zeigt, dass intensive und gezielte therapeutische Maßnahmen zur Reduktion chronischer Schmerzsyndrome beitragen können, indem sie die neuronale Aktivität und die synaptische Effizienz in schmerzverarbeitenden Regionen des Gehirns verändern. Dies führt nicht nur zu einer Verringerung der wahrgenommenen Schmerzintensität, sondern auch zu einer verbesserten Lebensqualität der Betroffenen. Besonders bedeutend ist die Fähigkeit des Gehirns, durch kontinuierliches Training und Stimulation neue neuronale Verbindungen zu bilden und bestehende zu stärken, was langfristig zu einer verbesserten Schmerzbewältigung und einer reduzierten Schmerzempfindlichkeit führt.

Mögliche Strategien für den Alltag

Um meinem Gehirn die zuvorgenannten Prozesse zu ermöglichen, kann man selbst bestimmte Dinge im Alltag verändern und somit alle Veränderungen auf neuronaler Ebene effektiver gestalten. Als wichtigster Faktor ist hier die Schlafdauer und Schlafhygiene zu nennen, da erst in bestimmten Schlafphasen das (Wieder-) Erlernte langfristig subkortikal gespeichert wird. Wenn wir intensiv für eine Prüfung lernen, ist die Nacht nach dem Lernen entscheidend für die Speicherung, genauso verhält es sich also auch bei körperlichem, oder kognitiven Training. Ein weiterer Faktor ist mein zirkadianer Rhythmus, auch oft als Biorhythmus bezeichnet, der durch die Ausschüttzung von Hormonen und Neuromodulatoren bedeutenden Einfluss auf die Neuroplastizität hat. Ich sollte mir also z.B. darüber bewusst sein, dass ein körperliches, oder kognitives Training am Vormittag stärkere Effekte erzielen kann, als am Abend.

Mögliche Strategien bei Erkrankungen

Das Bewusstsein darüber, dass die Vielzahl an orthopädischen und neurologischen Krankheitsbildern auch durch neuronale Anpassungen therapiert werden können, ist die Grundlage für alle praktischen Handlungsempfehlungen. Wenn ich beispielseweise bei einer Gonarthrose nicht nur gezielt die gelenkumspannende Muskulatur trainiere, sondern auch deren neuromuskuläre Ansteuerung beachte, kann die Schmerzwahrnehmung in diesem Bereich nachhaltig verändert werden. 

Folgende Herangehens- und Verhaltensweisen können die strukturellen und funktionellen Aspekte der Neuroplastizität und den Leistungszuwachs durch die Rehabilitation erhöhen:

  1. Maximiere deine Schlafqualität und Biorhythmus (z.B. durch Schlafhygiene, Ernährung oder vermindertem Medienkonsum am Abend)
  2. Trainiere dein visuelles System (z.B. durch QuietEye-Training) und höre Musik, die du magst, während du trainierst
  3. Sei fleißig, trainiere täglich, auch wenn es nur wenige Minuten sind
  4. Erwarte keine Perfektion von dir, sondern mache bewusst Fehler. Auch durch eine „krumme“ Kniebeuge lernt das Gehirn, nämlich indem sie sich „krumm“ anfühlt
  5. Belohne dich für deine Erfolge und mache sie dir bewusst, dann wird auch dein Gehirn es als positiv vermerken und festigen
  6. Trainiere dein Gehirn häufig, dafür kurz, intensiv und variabel um viele starke Reize zu setzen
  7. Verzichte vollständig auf Alkohol, da für die Störung der Neuroplastizität nicht die Menge entscheidend ist
  8. Werde selbst aktiv. Massagen und passive Therapieverfahren sind immer nur kurzfristig erfolgreich. Das Gehirn verändert sich nur, wenn du es selbst immer wieder aufs Neue forderst

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass viele Faktoren an der Veränderung des Gehirns beteiligt sind. Die Mehrheit lässt sich von uns aktiv beeinflussen. Mit der Kenntnis darüber können wir einiges an unserem Alltag verändern und so Fortschritte erreichen oder unser Training effizienter gestalten.

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Der Autor

Dr. Marc Niering
Dr. Marc NieringSport- und Neurowissenschaftler
Marc Niering ist seit 2021 bei Nordic Science als wissenschaftliche Leitung tätig. Er lehrt in den kognitiv-affektiven Neurowissenschaften, der Neurorehabilitation und Sportmedizin. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Auswirkungen von kognitiven Stimuli auf Schmerz, Bewegung und Leistung sowie darauf aufbauende Therapieverfahren in der Neurorehabilitation.
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